Der Gedächtnispalast ist die Technik der Wahl, wenn es darum geht, sich Vorträge und Präsentationen zu merken, die frei gehalten werden. Die Methode wurde in der Antike entwickelt und wird bis heute von Gedächtniskünstlern angewendet. Bei Vorträgen bietet der Gedächtnispalast den großen Vorteil einer mittleren Lösungen zwischen mühsamem Wort-für-Wort-Auswendiglernen und langweiligem Ablesen.

Der Gedächtnispalast: Entstehung in der Antike

Der große römische Redner, Politiker und Autor Cicero schreibt in seinem Buch Über den Redner (55 v. Chr.), dass der Dichter Simonides von Keos bei einem reichen Mann zu einem Gastmahl eingeladen war, für den er ein Lied gesungen hatte. Danach ging Simonides vor die Tür und hinter ihm stürzte die Halle ein. Alle waren tot und so sehr entstellt, dass niemand sie wiedererkannte. Wie sollte man die Opfer dieses Unglücks bestatten, wenn man doch nicht wusste, wer wer war? Simonides, der einzige Überlebende, schloss seine Augen, durchquerte den Raum in Gedanken, erinnerte sich, wer wo gelegen hatte, und führte die Hinterbliebenen dorthin.

„Ich begriff, dass es vor allem die Anordnung sei, die zur Erhellung der Erinnerung beitrage. Wer diese Seite seines Geistes zu trainieren suche, müsse deshalb bestimmte Plätze wählen, sich die Dinge, die er im Gedächtnis zu behalten wünsche, in seiner Fantasie vorstellen und sie auf die bewussten Plätze setzen.“

Das Gedächtnis lässt sich hervorragend trainieren

Was auf diese Plätze gesetzt wird, sind nicht abstrakte Begriffe, sondern wir tauschen sie gegen Bilder ein, die wir viel leichter behalten können.

„So kommt es, dass durch eine bildhafte und plastische Vorstellung Dinge, die nicht sichtbar und dem Urteil des Gesichts entzogen sind, auf solche Art bezeichnet werden, dass wir etwas, das wir durch Denken kaum erfassen können, gleichsam durch Anschauung behalten.“

Bereits Cicero ging davon aus, dass ein Gedächtnis nichts Fixes ist, sondern eine Fähigkeit, die sich hervorragend trainieren lässt – und er zeigte, wie. Spätere Generationen fanden dafür das Wort Gedächtnispalast, durch den wir uns ganz ähnlich wie Simonides bewegen. Der einzige Unterschied: In den Räumen des Palasts legen wir Elemente unseres Vortrags ab, repräsentiert durch starke und möglichst schräge Bilder, die wir uns gut merken können. Wenn wir den Vortrag halten, flanieren wir in Gedanken durch die Räume des Palasts, finden die Bilder, die uns an das Erinnern, was wir erzählen wollen.

Zwei Beispiele für den Gedächtnispalast in der Praxis

Ich nutze diese Technik, um meine Vorträge zu lernen. Allerdings habe ich zusätzlich immer Folien. Für einen Vortrag über Leadership Storytelling, den ich in einigen Varianten halte, sieht mein Gedächtnispalast so aus: Ich stehe vor dem Haus, in dem wir wohnen. Es ist neu gestrichen, sieht nun aus wie eine amerikanische Flagge. Ich trete durch die Tür, und der Flur ist voller Bücher, über die ich steigen muss. In der Küche steht Barack Obama und murmelt in einer Endlosschleife: »Wer äh bist äh du äh?« Im Arbeitszimmer sitzt eine schnatternde Gans mit militärischen Schulterabzeichen auf den Flügeln, an der Wand hängen drei Bilder in einer Reihe, alle drei zeigen einen Kreis. Im Badezimmer blicke ich in den Spiegel und sehe mein eigenes Gesicht.

Wohnung, Haus, Golfplatz – es muss kein Palast sein

Die Decodierung: Der Vortrag bringt mich in die USA, darauf stimmt mich das Haus ein. Der Flur voller Bücher verweist auf die öffentliche Bibliothek in Cambridge, in der die Szene spielt, die ich als Einstieg erzähle. Der Barack Obama in der Küche stellt dort sein erstes Buch vor und sagt ständig Äh – kein rhetorischer Glanz. Von dieser Szene schwenke ich zum Modell der Public Narrative, die Professor Marshall Ganz lehrt (die Militärgans). Die drei Kreise sind das zentrale Element seines Frameworks und zugleich die Gliederung meines Vortrags. Den ersten Inhalt der Kreise finde ich im Bad: die Story of Self – mein Gesicht im Spiegel. Und so geht es weiter.

Diese Art der Repräsentation macht es meinem Gedächtnis leicht, einen Vortrag zu behalten. Ich merke mir keine Worte, sondern Bilder, die ich in einer Umgebung ablege, die mir vertraut ist und durch die ich mich bewege. Es muss kein Palast sein, auch kein Haus.

Tiere, Menschen oder Objekte als Repräsentationen der Inhalte

Ein zweites Beispiel: In der Zeit, in der ich Golf spielte, bin ich einfach den Platz, den ich am besten kannte, Loch für Loch abgegangen und fand dort bizarre Objekte, Tiere oder Menschen als Repräsentationen der Inhalte meines Vortrags. Manchmal brauchte ich nur drei Löcher, um alles unterzubringen, manchmal neun, manchmal auch mehr. Es kommt ganz darauf an, wie detailliert ich mir den Lauf des Vortrags merken möchte.

Manchmal sind es große Schritte, manchmal kleine. Auch Schlüsselwörter, die auf jeden Fall genannt werden müssen, lassen sich als Worte einbauen, zum Beispiel das Wort Werte. Um auf dem Golfplatz zu bleiben: So ein Wort könnte zum Beispiel in den Sand eines Bunkers geschrieben sein oder in den Rasen graviert. Vielleicht tragen die Schwäne auf den Wasserhindernissen auch glitzernde Halsbänder mit Diamanten. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist nur, dass unser Gedächtnis damit arbeiten kann.

Den Bizarrheitseffekt für den Gedächtnispalast nutzen

In ihrem faszinierenden Buch über das trügerische Gedächtnis beschreibt Julia Shaw anschaulich, wie unsere Erinnerung arbeitet. Die Deutsch-Kanadierin unterstrich einen Aspekt, der bei Cicero noch nicht zu finden ist: den Bizarrheitseffekt.

Ein Beispiel: Sie empfiehlt, den Satz, die Kekse waren durch das Backofenfenster zu sehen, durch eine Variante zu ersetzen, die nach LSD-Trip klingt:

„Die Kekse kreischten, als der Backofen aus dem Fenster sprang.“

Das Bizarre, Lebhafte und Multisensorische wirkt stark, weil das Gedächtnis mehr Teile unseres Gehirns aktiviert als sonst. Die kreischenden Kekse und Schwäne mit glitzernden Diamanthalsbändern sorgen durch die Assoziationen dafür, dass mehr Pfade zu einer Erinnerung führen und wir diese so schneller abrufen können.